
Wie sich Stressreaktionen bei Kindern mit ADHS zeigen
Es gibt Momente im Familienalltag, die fühlen sich an wie ein Pulverfass:
Dein Kind schreit, schlägt um sich oder läuft plötzlich davon.
Du hast nur einen Satz gesagt – und alles eskaliert.
Was bleibt, ist oft Überforderung. Und das Gefühl: Ich weiß nicht mehr, was ich tun soll.
Doch was, wenn dein Kind nicht „ungezogen“ ist, sondern in einem automatischen Notfallmodus reagiert?
Was, wenn sein Verhalten kein Trotz, sondern eine Schutzreaktion seines Nervensystems ist?
Was ist Fight, Flight oder Freeze?
Unser Nervensystem ist darauf programmiert, uns zu schützen.
Wenn es eine Bedrohung wahrnimmt – ganz gleich, ob real oder gefühlt – schaltet es in den Autopiloten der Selbstverteidigung:
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Fight (Kampf): laut werden, schreien, treten, Gegenwehr
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Flight (Flucht): weglaufen, „aussteigen“, sich entziehen
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Freeze (Erstarren): sich „wegdrehen“, zurückziehen, sprachlos werden
Diese Reaktionen passieren unterhalb der bewussten Kontrolle.
Es ist nicht dein Kind, das entscheidet „Ich mach jetzt Ärger“ – es ist sein Nervensystem, das in Alarm geht.
Warum neurodivergente Kinder besonders schnell in Stressreaktionen rutschen
Kinder mit beispielsweise ADHS haben häufig ein sehr sensibles oder unterreguliertes Nervensystem.
Was für andere Kinder „nervig“ ist, kann bei ihnen schnell zu innerem Alarm führen:
Geräusche, Berührungen, Veränderungen im Ablauf, gefühlter Druck, Hunger, Müdigkeit – all das kann reichen, um den Körper in einen Stresszustand zu versetzen.
Einmal ausgelöst, läuft das Überlebensprogramm ab.
Und das bedeutet: Kein logisches Denken. Kein Zugriff auf Sprache. Keine Kooperation.
Eltern berichten dann:
„Ich hatte das Gefühl, mein Kind hört mich nicht mehr.“
„Er war wie weg.“
„Sie ist völlig explodiert, dabei war es nur eine Kleinigkeit.“
Doch genau hier liegt das Missverständnis: Es war eben nicht nur eine Kleinigkeit – für das Kind war es zu viel.
Was Eltern in solchen Momenten tun können
Der erste Schritt ist: das Verhalten nicht persönlich nehmen.
Dein Kind ist nicht gegen dich. Es ist gerade nicht in der Lage, sich anders zu verhalten.
Was hilft:
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Erkennen, was gerade passiert
➝ „Mein Kind ist im Fight-/Flight-/Freeze-Modus.“ -
Nicht gegenregulieren – sondern mitregulieren
➝ Bleib ruhig, auch wenn es schwerfällt. Dein Nervensystem ist jetzt das Signal für Sicherheit. -
Weniger Worte, mehr Präsenz
➝ Körperliche Nähe anbieten (wenn erlaubt), tief atmen, Blickkontakt, sanfte Stimme. -
Raum für Rückkehr schaffen, nicht für Bestrafung
➝ Wenn das Kind wieder ansprechbar ist: Halt anbieten, nicht Bewertung.
Was langfristig hilft
Fight-Flight-Freeze-Reaktionen verschwinden nicht durch Erziehung.
Sie verändern sich durch:
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Regelmäßige Regulationserfahrungen im Alltag
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Verlässliche Bezugspersonen, die nicht eskalieren
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Einen liebevollen Umgang mit Reizempfindlichkeit
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Körperorientierte Begleitung (z. B. Atemübungen, ätherische Öle, Bewegung)
Und nicht zuletzt: durch Eltern, die selbst mit sich verbunden sind.
Denn Co-Regulation heißt: Ich halte dich – auch wenn du dich gerade selbst nicht halten kannst.
Fazit
Wenn dein Kind plötzlich laut wird, sich entzieht oder wie versteinert wirkt – dann frag dich nicht zuerst: „Was stimmt nicht mit ihm?“
Frag dich: „Was braucht sein Nervensystem jetzt, um sich wieder sicher zu fühlen?“
Verstehen ist der erste Schritt zur Veränderung.
Und in einer Welt, die neurodivergente Kinder oft zu laut, zu wild oder zu anders finden, ist dein Verständnis vielleicht genau das, was den Unterschied macht.
Quellen & weiterführende Literatur
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Porges, Stephen W. (2017): Die Polyvagal-Theorie.
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Delahooke, Mona (2022): Brain-Body Parenting: How to Stop Managing Behavior and Start Raising Joyful, Resilient Kids.
-
Hüther, Gerald (2018): Mit Freude lernen – ein Leben lang.
-
Siegel, Daniel J. & Bryson, Tina Payne (2012): The Whole-Brain Child.
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Deb Dana (2020): Polyvagal Exercises for Safety and Connection.
